Viele Jahre ist es her, als ich einen Leistungskurs in Statistik belegt habe. Normalverteilung, Spannweite, Median, Modal… ganze Theorie hatte ich bereits inne. Dann kam die Prüfung, alles andere als erwartet.
Wir durften Bücher und Hefte aufschlagen, sogar einen Taschenrechner mit Funktionen benutzen. Langsam schlich sich Angst bei mir ein, nicht zu bestehen – zu Recht: die Aufgabe müsste so schwer zu lösen sein, dass wir auf alle möglichen Hilfsmittel angewiesen waren.
So etwa lautete die Prüfungsaufgabe: „Berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit, wann ein Blatt auf den Boden fällt.„ Wäre das Wort „wahrscheinlich“ nicht in der Aufgabenstellung gewesen, hätte ich von einer Kindergarten Geschichte ausgehen können. Im Nachhinein konnte ich nachvollziehen, dass mit dieser Fragestellung die Denkweise bei den Wahrscheinlichkeitsrechnungen geprüft wurde, aber nicht das statistische Wissen… Kurz und gut, Ich habe die Prüfung bestanden, aber sie über die Jahre nicht vergessen können.
Immer im Herbst, wenn die Blätter anfangen sich zu verfärben, und Laub vom Baum fällt, erinnere ich mich erneut daran. Mittlerweile bin ich sehr geübt in Sachen Laub. Allein unser Walnussbaum beschert uns gefühlten Tonnen von Biomüll jedes Jahr. So schnell und vollständig verrotten sie leider nicht. Als ordentlicher Gärtner, sammle und sammle ich die Blätter über Tage, Wochen, ja sogar Monate lang… und finde immer noch welche mitten im Hochsommer. Anfangs war ich genervt, hätte den Baum am liebsten abgesägt. Mittlerweile wende ich meine Kenntnisse in Statistik an, und ermuntere mich, bei jeder Stunde Gartenarbeit, ein weiteres Stück in die äußere Ende der Glockenkurve zu gelangen, bis alle Blätter aufgesammelt sind.
Diese Prüfungsaufgabe über Laub und Wahrscheinlichkeit hat anscheinend bei mir einen viel größeren Eindruck hinterlassen, was ich damals den Ausmaß hätte nicht erkennen können. Nach mehreren Jahren Lebenserfahrung (und meditatives Laubsammeln) würde ich mittlerweile sagen, dass das Leben mehr oder weniger zwischen den fallenden Blättern verläuft…
Irgendwann, etwa zwischen der ersten Frost und dem ersten Schnee, ist es soweit, und der Walnussbaum hat keinen hängenden Blatt mehr. Diesen Zeitpunkt nenne ich „Kein-Blatt-Tag“ und feiere ich ihn heimlich. In übertragener Sinne ist es für mich der Geburtstag der Natur. Wie ein Kind im Mutterleib reift, verbringt der Baum den Winter im Stillen, und im Frühjahr erwacht das Leben neu, wächst und gedeiht… bis wieder der „Kein-Blatt-Tag“ kommt. Statistisch gesehen, mit 100 % Sicherheit!
An diesem ganz speziellen Geburtstag nehme ich mir die Zeit, mich mit der Natur zu verbinden. Der Kein-Blatt-Tag ist die Zeit, wann die Energien wechseln, wann die Natur sich Stark zusammen zieht… Ich begebe mich auf eine Gedankenreise, finde dabei dass es sich gut anfühlt, den wiederkehrenden Ablauf ein weiteres Mal zu bezeugen. Dazu gehört auch die Veränderungen wahrzunehmen, wertschätzen, den Sinn erfragen… wenn nötig, akzeptieren. Dieser Ritual erdet mich, bereitet mich auf das was kommen wird vor – dieses oder jenes, gut oder schlecht, hin oder her, es kann anders kommen, als man sich denkt, plant, übt, vorsorgt und träumt… es wird eine Veränderung geben, wie es immer gab, mit 100 % Sicherheit!
Ich wollte dieses Jahr meine Geschichte teilen, und hoffe, möglichst vielen Menschen manche Denkanstöße zu geben, denn „die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung.“ wie Heraklit vor 2,5 Tausend Jahren sagte. Jeder kann gerne diese Weisheit teilen, wie er mag, ich bin nur der bescheidene Überbringer…
Wenn dieser Text Dir gefiel, dann lese auch Achtsamkeit , was ich ungefähr zu gleicher Zeit schrieb.
– o –